Alureng und Talhon

 

Bei den Arbaren erzählten die Horger ihren Schützlingen oft Geschichten vor dem Schlafen. Darin ehrten sie Vorfahren und machten die Kinder mit den Gestalten des Glaubens bekannt; doch bildete dieses allabendliche Ritual vor allem einen entspannenden Abschluss nach einem langen Tag des Lernens. Die folgende Geschichte, ist ein Beispiel für eine solche Erzählung.

 

 

 

Nicht weit von der Stadt Ailar entfernt wohnte einst ein mächtiger Mann, der mit allerlei Gütern gesegnet war. Nicht nur ein großer Teil des Umlandes war sein, sondern auch zahllose Herden, die dort weideten und ein großes Gefolge und eine große Menge Diener.

 

Er hatte in seiner Obhut einen einzigen Sohn, der Alureng hieß, von dessen Schönheit der Ruf weit und breit ging. Die vornehmsten Horger des Landes warben um ihn, aber keiner hatte Glück mit seiner Bewerbung; wer voll Vertrauen und Hoffnung einzog, verließ den Ort still und traurig.

 

Der mächtige Mann, der glaubte, sein Sohn wähle so lange, um den Besten heraus zu wählen, ließ ihn gewähren und erfreute sich seiner Klugheit; doch als schließlich die Reichsten und Vornehmsten, vergeblich, wie die Anderen, ihr Glück versucht hatten, so geriet er in Zorn. Er sah seinen Jungen an und sprach: „Bis nun habe ich dir freie Wahl gelassen, aber da ich sehe, dass du jeden ohne Unterschied abweist, und der beste Horger dir noch nicht gut genug scheint, so will ich nicht länger Nachsicht mit dir haben. Mein Ruhm schmälert sich mit jedem Tag, den du nicht in die Obhut eines Horgers gehst – es ist doch wohl bekannt, dass Kinder bei ihren Eltern nichts lernen können. Ich will dir deinen Sinn brechen! Bis zur Rauchnacht gestatte ich dir Frist, hast du dann keinen Horger erwählt, so will ich dich schon zwingen, mit dem zu gehen, den ich dir bestimme!“

 

Alureng bewunderte einen Mann, der Talhon hieß, und eben so schön war, wie tapfer und edel. Er wollte lieber sterben, als mit einem anderen Horger zu gehen, als diesem Krieger. Weil er aber ein Traller war und gezwungen am Hof des Vaters zu dienen, so musste er seinen Wunsch geheim halten; denn sein Vater war zu stolz auf Macht, Ruhm und Reichtum, als dass er seine Einwilligung gegeben hätte, diesen frei zu machen und ihn als Horger zu dulden.

 

Als Alureng des Vaters finsteres Antlitz sah und seine zornigen Worte hörte, wurde er leichenblass, denn er kannte seine Art und zweifelte nicht, dass er seine Drohung wahr machen würde. Ohne ein Wort zu erwidern, ging er zurück auf seine stille Kammer und dachte und dachte, wie er das dunkle Wetter abwenden könne, das über ihm herzog, doch er dachte vergebens. Die Rauchnacht rückte näher und näher und mit jedem Tag wuchs seine Angst.

 

Endlich entschlossen sich Alureng und Talhon zur Flucht. „Ich kenne einen sicheren Ort“, sagte Talhon, „ wo wir unentdeckt so lange verweilen können, bis dass man nach alter Väter die Hunval akzeptiert.“

 

In der Nacht, als Alles im Schlaf war, führte Talhon Alureng hinaus in die Berge. Der Feuerdieb leuchtete ihnnen auf dem Weg und die Ahnen lächelten auf sie nieder. Sie hatten ein paar Kleider und Tierfelle genommen, so viel als sie tragen konnten. Sie stiegen die ganze Nacht, bis sie zu einem einsamen, von hohen Felsblöcken eingeschlossenen, Ort gelangten. Hier führte Talhon den müden Alureng zu einer Höhle, deren Eingang kaum bemerkbar war. Ein enges, niedriges, schwarzes Loch im Gestein, das aber bald zu einer großen, tief in den Berg hineinreichenden Halle wurde. Alureng fürchtete den in der tiefe lauernden Kjahullir, doch verflog die Angst, als Talhon die Ruckgabe entfachte und der warme Schein den Wänden den Schrecken nahm. Und so saßen sie dort, in tiefster Einsamkeit, auf den Tierfellen ruhend, fern von aller Welt.

 

Talhon hatte diese Höhle, von der ich auch heute noch weiß, wo sie ist, zuerst entdeckt, und da damals noch niemand sonst davon wusste, waren sie vor den Nachforschungen des Vaters sicher. Sie brachten Tag um Tag, Woche um Woche und Monat um Monat in der Abgeschiedenheit zu. Talhon ging auf die Jagd und Alureng hütete das Feuer. Manchmal stieg er hinauf auf die Felsspitzen, aber sein Auge schweifte, so weit es nur reichen konnte, nur über die menschenverlassenen Hänge des Berges.

 

Der Winter kam und ging und mit dem Frühling wurden die Wiesen grün und die Blätter entfalteten ihre Pracht an den Bäumen. Da kam eines Abends Talhon mit der Nachricht, dass er die Mannen von Alurengs Vater in der Ferne erkannt habe und er ihren Augen schwerlich unbemerkt geblieben sei. „Sie werden diese Gegend umringen“, sagte er, „und nicht Ruhe geben, bis sie uns gefunden haben. Ohne zu zaudern müssen wir unsere Zuflucht verlassen.“

 

Sie stiegen an der anderen Seite des Berges hinab und erreichten den Strand eines Sees, wo sie glücklicherweise ein Floß fanden, dass einige Jäger dort abgelegt hatten. Talhon stieß ab und das Floß trieb hinaus auf den See. Sie waren ihren Verfolgern entkommen, doch wohin sollten sie sich wenden? Hinter ihnen lag das Land von Alurengs Vater und vor ihnen und zu ihren Seiten nur die karge Leere der Grenzen von Schneevaters Land. Auf dem See konnten sie nicht bleiben, denn bald würde der Kjahullir sie bemerken und mit seinen Armen aus der Tiefe heraus nach ihnen greifen.

 

So trieben sie, ziellos und planlos, die ganze Nacht auf dem See. Und wie der Tag anbrach, war der Strand um sie verschwunden und auch die Berge, sie sahen nichts, als den Himmel oben und das Wasser unten und die Wellen, die auf- und abstiegen. Sie hatten in der Eile keinen Bissen Nahrung mitgenommen und Hunger und Durst begannen, sie zu quälen.

 

Einen Tag, einen zweiten und noch einen dritten schwebten sie in dieser Not und Alurengs Ermattung war so groß, dass er den Kiebitz zu hören glaubte.

 

Am Abend des dritten Tages entdeckten sie endlich eine Insel, von ziemlicher Größe, sie war von einer Anzahl kleinerer umringt. Talhon stak das Floß sogleich darauf zu, doch, als er ihr ziemlich nahe gekommen war, erhob sich ein plötzlicher Sturmwind und die Wellen warfen sich ihnen Schildwällen gleich entgegen. Er kehrte um, in der Absicht, sich von einer anderen Seite zu nähern, aber es gelang nicht besser. So oft es herankam, wurde das Floß, wie von einer unsichtbaren Gewalt zurückgeschleudert.

 

„Ruck!“, rief er, und segnete sich und blickte auf den armen Alureng, der vor seinen Augen zu verhungern schien. Kaum aber war der Ausruf über seine Lippen gekommen, so hörte der Sturm auf, die Wellen legten sich und das Floß landete ungehindert. Talhon sprang ans Ufer und einige Muscheln, die er auf dem Strand auflas, stärkten und erquickten Alureng, so dass er bald im Stande war, das Floß zu verlassen.

 

Die Insel war mit Gebüsch bewachsen und schien unbewohnt zu sein. Doch, als sie bis zur Mitte hin gekommen waren, entdeckten sie eine Hütte, die nur halb über die Erde emporragte und halb unter der Erde zu stehen schien. In der Hoffnung, Menschen und Beistand zu finden, gingen sie näher. Sie horchten, aber es herrschte die Stille. Talhon öffnete endlich die Tür und sie traten ein, aber wie erstaunt waren sie da: Alles zum Bewohnen war völlig eingerichtet, obwohl sie kein lebendes Wesen erblickten. Das Feuer brannte, ein Kessel mit Fischen hing darüber, der nur auf sie zu warten schien, die Bettstatt war gemacht und bereit sie zu empfangen.

 

Talhon und Alureng blieben eine Zeit lang zweifelnd und mit Scheu da stehen, doch Hunger und Müdigkeit überzeugten sie doch einzutreten und sie holten die Speise und sättigten sich und legten sich in die warmen Felle des Bettes.

 

Auch in der Folge zeigte sich niemand, die Hütte als seine zu nennen, als habe die unsichtbare Macht das Haus für sie bereit gestellt. Sie verlebten den folgenden Sommer in vollkommener Glückseligkeit und die Insel gab ihnen, was sie brauchten.

 

Als es Herbst wurde und Alureng von Talhon bereits das Handwerk des Kriegers gelernt hatte, setzte sich auf den Esstisch eine große Ratte. Ihre Augen funkelten und zum großen Erstaunen begann sie zu sprechen. „Fürchtet euch nicht“, sagte die Ratte, „ich bin der Eigentümer dieses Hauses und danke Euch, dass ihr es so reinlich und wohl gehalten habt, und ich alles in solcher Ordnung bei euch finde. Gerne wäre ich früher gekommen, aber es war nicht eher möglich.“ Da schüttelte die Ratte sich Ruß aus dem Fell und fuhr fort: „Es ist nun an der Zeit, dass ihr die Insel wieder verlasst. Ihr habt der alten Vätersitte genüge getan. Steigt morgen auf euer Floß und kehrt heim.“ Daraufhin löste sich die Ratte in einem Rauchschwall auf und so überzeugt von der Rechtschaffenheit ihres Gastgebers, taten Talhon und Alureng, wie ihnen der Verhüllte geboten hatte.

 

Das Floß brachte sie zurück auf den See in den Bergen und sie fanden ihren Weg nach Ailar bald. Wie der Feuerdieb es ihnen gesagt hatte, nahm man sie in der Gemeinschaft auf und Talhon wurde zum Horger, denn er hatte die alte Sitte geehrt. Alurengs Vater versöhnte sich bald mit den beiden und gab ihm eine Halle und Austattung. Und als Alureng ganz ausgelernt hatte, waren die beiden für viele Tiner die Horger und noch heute ehrt man sie.

 

Und nun, meinen Kleinen, geht zu Bett und ehrt die Horger, in deren Halle ihr schlaft und deren Geschichte ihr nun kennt.