Wie Ruck den Honig stehlen wollte

Lange Zeit vor Übermorgen hatte Schneevater all über das Land sein weißes Leichentuch gelegt und die Kälte seines Atems hatte es gehärtet, so dass aller Fels und alle Bäume, jeder Bauch und jeder Weiher im spärlichen Licht, das Schneevaters Bart vom Haus der Feuermutter hernieder scheinen ließ, funkelte als sei alle Welt aus Kristall geschaffen.

 

Fast alle Menschen und Tiere waren vor Schneevaters Wüten weit hinab in den Süden gewandert, wohin sein Bart nicht reichte, so dass er dort keinen Schnee aus ihm herausschütteln konnte. Nur der Bär schlief in seiner Höhle, um darauf acht zu geben, dass die Welt auch dann noch Bestand habe wenn, Schneevater sich auf seinen Berg zurückgezogen haben würde. Ein Dienst, der den Menschen wohl bekannt war und für den sie dem Bär so dankbar waren, dass sie, wann immer sich der Schneevater durch sein Zorngeheul angekündigte und die Spitzen seines Bartes am Himmel zu sehen waren, dem Bären Honigwaben vor die Höhle gelegt hatten, damit dieser sich stärken konnte, bevor er seinen Wachschlaf antrat.

 

Die Ratte, die sich lange an Feuermutters Ofen gewärmt hatte, bekam nun Essenslust auf etwas Süßes – und sie wusste, dass der Bär niemals alle Honigwaben verspeiste, die die Menschen ihm hinlegten. Also steckt sie sich ein paar Glühspäne ins Fell und ließ sie sich auf die Erde fallen und stapfte durch den Schnee auf die Höhle des Bären zu. Der Bär würde sie schon nicht bemerken, hatte er doch sein Ohr auf den Boden gedrückt um die Bedrohung kommen zu hören. Der Schneevater sandte wortreiche Flüche über das Land und schüttelte seinen Bart, ihm würde die Ratte sicherlich nicht auffallen. Und sonst waren alle Menschen und Tiere geflohen – wer sollte den Diebstahl der Ratte da schon bemerken. Doch als sie vor der Höhle ankam und sich schon über den übriggebliebenen Honig hermachen wollte, da bemerkte sie das Rotkehlchen im Geäst sitzen. Sie kletterte flink hinauf und fragte es: „Warum bist du nicht mit den anderen fort? Warum bist du noch hier, wenn Schneevaters frostiges Fluchen über Feld und Fluren fliegt? Warum gingst du nicht in den Süden, wo sich die Menschen und Tiere an Feuermutters Feuerschein wärmen können und alles Land noch andre Farben hat als weiß?“

 

Das Rotkehlchen blickte die Ratte an, in deren Fell die qualmenden Glühspäne noch steckten, an denen die Kälte jedoch beständig nagte. Dann sagte es: „Weil ich nicht wie andere Tiere oder Menschen bin, die in leichtem Sinn wandern, wohin sie Zeit oder Geschick treiben. Wenn ich auch vor Schneevater fliehen würde, wer würde seinen Flüchen dann Widerspruch entgegnen? Wenn mein Singen den Schneevater hier nicht beschäftigte, was würde ihn davon abhalten weiter nach Süden zu gehen und dort seinen Bart zu schütteln?“

 

Da staunte die Ratte nicht schlecht, aber dann fragte sie das Rotkehlchen: „Aber wie kannst du hier ausharren? Das Land ist Kristall, die Luft beißt, der Boden greift, das Wasser sticht! Ich habe mir Glut aus Feuermutters Herd ins Fell gesteckt, um nicht zu erfrieren, doch selbst die Glühspäne werden von Kälte gefressen. Du hast nichts der gleichen, wie kannst du hier nur leben?“

 

Das Rotkehlchen blickte die Ratte an, in deren Fell die qualmenden Glühspäne nur noch in geringer Zahl steckten, an denen die Kälte schon ziemlich genagt hatte. Dann sagte es: „Du gehörst zu den Ruhelosen, Ratte, reisend, rennend, richtungslos. Solche wie du haben nie das stille Leuchten in der eigenen Brust bemerkt, weil sie immer nur nach Feuermutters Feuer in der Ferne getrachtet haben. In meinem Herz glüht ewiges Licht und so ist es mir einerlei ob es Tag ist oder Nacht, Sommer oder Winter. Selbst unter Eisschauern lässt mich das Licht in mir die Lieder singen, meine Träume verkünden und so mir selbst Trost spenden, gleich welcher Schmerz mich auch plagt.“

Da staunte die Ratte nicht schlecht, aber dann fragte sie das Rotkehlchen: „Hat denn jeder so ein Licht in seiner Brust? Kann denn jeder den Schwernissen trotzen? Dem Schneevater trotzen?“

 

Das Rotkehlchen blickte die Ratte an, in deren Fell die qualmenden Glühspäne kaum noch steckten, denn die Kälte hatte schon fast alle gefressen. Dann sagte es: „In jeder Brust schlummert das Licht, denn die Feuermutter hat es jedem Tier und Menschen mitgegeben, als sie am Anfang aller Zeiten ihr Herdfeuer entzündet hat. Doch unter all dem Fleisch und Denken können nur diejenigen, die Nächten und Stürmen trotzen und nicht vor dem Schneevater fliehen, es wiederfinden.“

 

Da staunte die Ratte nicht schlecht und begann zu frösteln, denn in ihrem Fell steckte kaum noch ein einziger Glühspan. Des Rotkehlchens Worte hatten sie beeindruckt, aber sie wollte es nicht darauf ankommen lassen und unter Schneevaters Wüten zu Eis erstarren. Also rannte die Ratte rasch Richtung Süden. Unter dem wärmenden Feuer der Feuermutter begann sie den Tieren und den Menschen davon zu berichten, was das Rotkehlchen ihr erzählt hatte.

 

Noch als der Schneevater sich auf seinen Berg zurückgezogen hatte und Menschen und Tiere wieder in die Heimat zurückkehrten, erzählten sie sich untereinander von dem, was das Rotkehlchen gesagt hatte. Und immer wenn einer von ihnen das Rotkehlchen traf, fragte er staunend nach, ob das denn wahr sei, was die Ratte erzählt hatte und das Rotkehlchen bestätigte.

 

So kam es, dass als die Zacken von Schneevaters Bart sich abermals am Himmel zeigten und vom Berge her sein Zorngeheul erklang, sich einige noch an das Rotkehlchen erinnerten und was es gesagt hatte und gingen nicht in den Süden. Sie blieben und vertrauten auf den Lichtfunken in ihrer Brust und begannen zu singen, als Schneevater frostige Flüche über das Land hauchte.

 

Und als diejenigen, die in den Süden gegangen waren, bei ihrer Rückkehr feststellten, dass jene, die geblieben waren, dem Schneevater getrotzt hatten, blieben beim nächsten Male noch mehr von ihnen. Und weil immer mehr blieben und immer mehr dem Schneevater entgegen sangen, schüttelte er seinen Bart immer kürzer über dem Land aus und weniger Land erstarrte ganz zu Kristall und immer kürzere Zeit, hielt er es aus.

Und mach einer sagt, wenn irgendwann nach Übermorgen alle Menschen und Tiere in der Heimat bleiben und singen, wird der Schneevater ganz auf seinem Berge bleiben.