Ago- und Pyrikyreische Gesellschaften

Wie, warum und warum nicht mehr?

aus einer Einführungsvorelsung von Hytre Karras

 

Betrachten wir historische Gesellschaften, stoßen wir schnell auf Phänomene, die mit dem unterschiedlichen Ansehen der Geschlechter, sei es in altertümlichen Gesellschaften der biologischen oder in moderneren Gesellschaften der sozialen, zusammenhängen.

 

Im 19. Jahrhundert wurden diese Beobachtung unter der Dichotomie von Agokyrea („Männerherrschaft“) und Pyrikyrea („Frauenherrschaft“) systematisiert. In der Geschichtswissenschaft wird dieses System nicht nur als einer der Standards an unseren Universitäten gelehrt, auch Neandras Phelis nutzt diese Klassifikationsmerkmale noch in seiner neusten Monographie (Das Konzept der „Freiheit“ im Spiegel antiker Kulturen, 1985).

Der geschichtswissenschaftliche Konsens besagt, dass sich jede historische Gesellschaft im Spannungsfeld zwischen Ago- und Pyrikyrea befand und mal mehr in die eine, mal in die andere Richtung tendierte. Doch entgegen der Ansicht mancher moderner Splittergruppe, die auf Basis oberflächlichen Wissens damit versucht zu „beweisen“, dass entweder Männer oder Frauen natürlich minderwertig seien, stellen wir bei der Betrachtung solcher Gesellschaften fest: Weder wurden in agokyreischen Gesellschaften Frauen als per se „minderwertig“ betrachtet, noch Männer in pyrikyreischen Gesellschaften.

 

Vielmehr können wir beobachten, dass in allen Gesellschaften philosophisch-ethische Überlegungen zur rechtlichen Bevorzugung des einen oder anderen Geschlechts führten, selten auch einmal rein religiöse Gründe – die sich aber häufig auf die philosoph-ethische Ebene zurückführen lassen. Wie dem auch sei, die Bevorzugung oder Benachteiligung gründete auf der Vorstellung, dass die Ideale, die mit einem bestimmten Geschlecht verbunden waren, für das „Gemeinwohl“ nützlicher und entscheidender waren als andere.

 

Bei den antiken Iderusen und Demarern wurde der Vorrang der Frau zwar vordergründig mit der Religion begründet, doch wenn wir genauer hinsehen, erkennen wir, dass in beiden Gesellschaften die Männer zwar als Krieger geschätzt, aber aufgrund der ihnen zugeschriebenen Aggressivität als ungeeignet für die Lenkung des Gemeinwesens erachtet wurden. Die rechtliche Vorherrschaft der Frau diente in beiden Gesellschaften dem Erhalt des Gemeinwesens, das sich zwar auch durch Krieg, vielmehr aber durch Diplomatie mit den benachbarten Gemeinweisen auseinander setzen mussten.

 

In weniger früh urban entwickelten Gesellschaften, wie den bei den antiken Arbaren, Chedern oder Rameriern, finden wir die Frau, als Gebärerin des Nachwuchses als wichtigen, aber in erster Linie schützenwerten Bestandteil des Gemeinwesens, der von den männlich dominierten Kriegern verteidigt werden muss.

 

Das verleitet zu der Annahme, dass je urbaner eine historische Gesellschaft veranlagt ist, desto wahrscheinlicher herrschten pyrikyreische Elemente vor. Und diese Beobachtung lässt sich auf viele historische Gesellschaften der Antike und Klassik anwenden.

 

Doch es gibt auch Gesellschaften wie die Echyren, die sich nicht so leicht einem der Extreme der Dichotomie zuordnen lassen und auch die Beobachtung von der urbanen Pyrikrea brechen. Die Echyren sind bereits in der Antike eindeutig urban geprägt, doch finden wir in den Stadtstaaten fast ausschließlich agokyreische Systeme, in den weniger urbanisierten eneathischen Gebieten aber eine radikale Pyrikrea, in der die Männer sogar einen sklavenartigen Rechtsstand besaßen und eher wie Vieh betrachtet wurden. Auch die antike gunubische Zivilisation, die eindeutig früh urbanisiert war, bricht dieses Bild, herrschte hier doch eine Agokyrea, in der Frauen eher in den Bereich der Sklaverei gesetzt wurden – während schon ihre direkten Nachbarn, die später urbanisierten Phanecher eine egalitärere Gesellschaftsform besaßen.

 

Die Gründe aus denen eine historiche Gesellschaft bestimmte Formen der Ago- oder Pyrikyrea ausbildete oder nicht, können also nicht allein in der Urbanisierung gesucht werden; obgleich man dieser einen gewissen Einfluss zuordnen kann. Die konkrete Ausformung scheint durch eine Vielzahl, in der Rückschau nicht mehr einwandfrei klärbarer, Gründe beeinflusst worden zu sein und wir müssen vermuten, dass konkrete herrschende Eliten mit ihrer persönlichen, individualspychologischen Einstellung spürbaren Einfluss auf ihre beherrschten Gesellschaften ausübten. Das weltweit zu keiner Zeit das eine Geschlecht eindeutig die Vorherrschaft über das andere errungen hat, dient als Zeugnis ihrer Gleichwertigkeit, besonders wenn wir annehmen, dass hier starke Männer ihre Gesellschaft in agokyreische Richtung beeinflussten, dort aber starke Fraue in pyrikyreische Richtung.

 

Halten wir uns diese Erkenntnis vor Augen, können wir eine Gesellschaft nicht allein aufgrund der mittlerweile fast einhundertjährigen Klassifikation als „primitiv“ betrachten, sondern müssen die ago- oder pyrikyreische Ausformung einer Gesellschaft vielmehr als Anstoß genauerer Forschungen annehmen. Interessanter als diese bloßen Momentaufnahmen einer bestimmten Epoche ist dann auch die Frage, aus welchen Gründen sich eine bestimmte Gesellschaft schließlich änderte.

Unsere moderne, egalitäre Gesellschaft ist schnell dabei, die Unterdrückung des Mannes durch die eneathischen Reiterkriegerinnen, den Ausschluss der Männer aus der Politik durch die iderusischen Priesterinnen oder die „dynastischen Zuchtstuten“ (Phelis, 1973) der Gunubier als „primitiv“ abzustempeln. Aber wie entwickelten sich diese Gesellschaften in so extreme Richtungen? Wie entwickelten sie sich fort – und vor allem, warum?

Im Lauf dieses Semesters werden wir versuchen Antworten auf diese Fragen für bestimmte historische Gesellschaften zu finden.